Wie werden Geflüchtete an den Außengrenzen der Europäischen Union behandelt?
Die bosnisch-kroatische Grenze
Auszug aus dem ai-Journal von Dezember 2020:
…“The Game. Das Spiel. So nennen Flüchtlinge den Versuch, es über die grüne Grenze ins gelobte Land zu schaffen, in die Europäische Union. Sie nennen es so, obwohl es alles andere als ein Spiel ist, eine unbewachte Route über die bewaldeten Berge im äußersten Westen Bosnien-Herzegowinas ins benachbarte Kroatien zu finden. Denn auf der anderen Seite erwartet sie oft genug das Grauen. Schon seit Jahren berichten Flüchtlinge, wie kroatische Polizisten sie schlagen, misshandeln, erniedrigen und illegal über die grüne Grenze nach Bosnien zurückbringen. Für die Flüchtlinge in diesem Teil Europas existieren keine Menschenrechte, gibt es keine fairen Verfahren oder die Achtung ihrer Würde.
Zlatan Kovacevic, Gründer der Hilfsorganisation SOS Bihac, fährt mit seiner Tochter Hana und Jannik Jaschinski, einem Praktikanten aus Deutschland, in seinem weißen Bus mehrmals die Woche die Grenzregion ab, um jenen zu helfen, die vom ‚Game‘ zurückkehren. Es dauert nicht lange, bis er auf eine Gruppe von Flüchtlingen trifft, die allesamt nur mit Socken an den Füßen und zerschlagenen Gesichtern neben der Straße gehen. Er hält an, steigt aus und grüßt mit ‚Selam Aleikum‘. Die Männer sind sichtlich erschöpft, und als ihnen Jannik Mineralwasserflaschen reicht, bedanken sie sich und trinken hastig.
Mohsin ist einer von ihnen und kommt aus Pakistan. Er erzählt, dass sie in der vergangenen Nacht versucht hätten, über die Grenze zu kommen und von kroatischen Polizisten aufgegriffen worden seien. „Sie trugen Sturmmasken, damit man sie nicht erkennen kann. Sie zwangen uns, unsere Schuhe auszuziehen und auf einen Haufen zu werfen zusammen mit unseren Rucksäcken, in denen wir Wasser und etwas zu essen hatten. Das verbrannten sie vor unseren Augen. Dann befahlen sie, uns in einer Reihe aufzustellen und schlugen einem nach dem anderen mit der Faust ins Gesicht. Jeder ging zu Boden, sie schlugen uns mit Schlagstöcken, traten uns mit den Stiefeln ins Gesicht, auf den Kopf, überall hin, wahllos“, sagt Mohsin.
Sein Gefährte Asif sitzt auf dem Boden. Er hat so starke Schmerzen in seinen geschwollenen Händen, dass er die Wasserflasche nicht festhalten kann. Jemand hält ihm die Flasche an den Mund, der von Blut verkrustet ist. Nach einigen Schlucken sagt er mühsam: „Es ist schon das fünfte Mal, dass ich versuche, über die Grenze zu gelangen. Einmal habe ich es bis nach Triest geschafft. Dort übergaben mich die italienischen Beamten den Kroaten und brachten mich wieder nach Bosnien, setzten mich im Wald aus und sagten, dass ich nicht wiederkommen soll.…“ (ai-Journal Dez.2020)
Um die Jahreswende 2020/21 gingen durch alle Medien die Bilder des Flüchtlingslagers LIPA an der bosnisch-kroatischen Grenze. Hier endet für viele Geflüchtete der Versuch, zu Fuß ein Land der Europäischen Union zu erreichen, um einen Asylantrag zu stellen. Stattdessen müssen sie monatelang in provisorischen Lagern verharren. Eines dieser Lager, LIPA, brannte im Winter ab, sodass Hunderte Menschen auf einfachste Zelte im Schnee ausweichen mussten.
Auch im Herbst 2021 hat sich an der Situation nichts geändert: Filmaufnahmen eines Recherchenetzwerkes von ARD, Spiegel u.a. belegen systematische brutale Push-Backs von Flüchtlingen an der bosnisch-kroatischen Grenze. Insgesamt sind 38 Polizisten zu sehen und 148 Menschen, die zum Teil unter Einsatz erheblicher Gewalt über die grüne Grenze zurückgetrieben werden. Die Bilder sind einige Tage in den Medien präsent. EU-Kommission und Politiker zeigen sich ‚besorgt‘ und finden die Bilder ‚unerträglich‘. (siehe Kölner Stadtanzeiger, 08.10.2021, „Gewalt gegen Migranten in Kroatien“ von Jan Emendörfer, Damir Fras)
Amnesty International hat am 12.01.2021 zu diesem Thema gemeinsam mit anderen Flüchtlingsorganisationen ein Statement veröffentlicht. Darin wird festgestellt, dass die verschlechterte humanitäre Situation in Bosnien-Herzegowina auch eine Konsequenz der EU-Politik zur Verstärkung der Außengrenzen und der Auslagerung der Migrationskontrolle an Staaten am Rand der EU oder sogar an Drittstaaten außerhalb der EU ist. Bedauerlicherweise werde durch den geplanten „New Pact on Migration and Asylum“ der EU-Kommission genau diese Politik fortgeführt: So viele Geflüchtete wie möglich sollen in Ländern außerhalb der EU-Grenzen festgehalten werden, anstatt endlich sichere und legale Zugangswege in die EU zu schaffen. (Bericht Amnesty International Januar 2021: Bosnia und Herzegowina – Systemic Solutions and meaningful EU-support, including safe pathways, could prevent recurring humanitarian emergencies)
Die polnisch-belarussische Grenze
Auch an der 400 km langen Grenze zwischen Polen und Belarus versuchten Hunderte Geflüchtete, die EU zu erreichen und einen Asylantrag zu stellen. Von Minsk kommend, wurden sie in Bussen an oder über die Grenze gebracht und von polnischem Boden häufig zurückgetrieben auf die belarussische Seite, ohne dass ihr Asylgesuch gehört wurde. Dies waren eindeutige Push-Backs. Die Menschen dort befanden sich in einfachsten Lagern in militärisch abgeriegelten Pufferzonen und konnten weder vor noch zurück. Polen verhängte am 3.September 2021 den „Ausnahmezustand“ in der Grenzregion, wodurch Journalist*innen und NGOs der Zugang zu dem Gebiet verwehrt wurde. Amnesty International hat seit dem 12. August 2021 mehr als 50 Satellitenvideos an der Grenze gesammelt und analysiert. Die Aufnahmen bestätigten die Bewegungen der Geflüchteten und die zunehmende Sicherung der Grenze.
Mehrere Menschen sind bereits gestorben, während das polnische Parlament für die Legalisierung von Push-Backs abstimmte. In Deutschland forderten der damals amtierende Innenminister Seehofer und die Polizeigewerkschaft Patrouillen an der deutsch-polnischen Grenze. Das fand offene Ohren bei faschistischen Gruppierungen im Grenzgebiet. (siehe „Seebrücke“ Oktober 2021)
Amnesty International forderte die polnische Regierung mehrfach auf, sicherzustellen, dass Menschen, die Schutz suchten, Zugang zum polnischen Staatsgebiet erhielten. Die Behörden müssten die Push-Backs einstellen und den Gestrandeten angemessene Versorgung gewähren. (siehe Pressemitteilung Amnesty International, September 2021 und November 2021)
Im Winter 2021/22 wurden noch 600 Menschen in der Nähe des Grenzgebietes gezählt. Etwa 1000 Menschen befanden sich in einer Logisitikhalle in Belarus. 3817 Menschen wurden aus Belarus in den Irak zurückgebracht. (siehe Briefing Amnesty International, 18.01.2022)
Entlang der Grenze waren die polnischen Behörden derweil mit dem Bau einer 5,50m hohen Grenzbefestigungsanlage aus Stahl und Stacheldraht beschäftigt. (siehe G.Lesser und C. Jakob in der taz vom 01.02.2022)
Die griechisch-türkische Grenze
Am 27. Februar 2020 kündigte die Türkei an, das EU-Türkei-Abkommen nicht weiter einzuhalten. Sie würde geflüchtete Menschen nicht mehr länger daran hindern, über die türkisch-griechische Grenze nach Europa einzureisen – eine Grenze, die seit 2016 geschlossen war. Die Türkei hatte bereits 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen, mehr als jedes andere Land. Seit Dezember 2019 sind in der syrischen Provinz Idlib weitere hunderttausende Menschen in Richtung der geschlossenen türkischen Grenze geflohen, da die syrische Regierung Luftangriffe gegen die Zivilbevölkerung in Idlib flog.
Länder in Europa und anderswo sind bisher ihrer Verantwortung zur gleichmäßigen Aufnahme der Frauen, Männer und Kinder, die aus Syrien fliehen mussten, nicht nachgekommen. Die Türkei gab an, der großen Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge nicht mehr gewachsen zu sein. Unweigerlich führte die Ankündigung der türkischen Regierung dazu, dass viele der Menschen, die seit mindestens 2016 in der Türkei festsaßen, zu den neu geöffneten Grenzübergängen eilten – die jedoch nur auf türkischer Seite offen waren. Auf griechischer Seite wurden sie von schwer bewaffneten Grenzposten mit Tränengas, Gummigeschossen und Stacheldraht empfangen.
Worum geht es in dem EU-Türkei-Abkommen?
Im März 2016 einigten sich die EU und die Türkei darauf, dass auf den griechischen Inseln eintreffende Schutzsuchende, die keinen Asylantrag stellen oder deren Asylantrag als unbegründet abgelehnt wurde, in die Türkei zurückgebracht werden. Für jeden zurückgekehrten Schutzsuchenden wollte die EU einen syrischen Flüchtling aus der Türkei auf direktem Wege aufnehmen (1:1 Regelung). Die Türkei verpflichtete sich, Geflüchtete an der Weiterreise nach Europa zu hindern. Im Gegenzug erhielt die türkische Regierung Milliardensummen von der EU, die zur Versorgung der in der Türkei lebenden Flüchtlinge ausgegeben werden sollten.
Eine Zeitlang kamen daraufhin weniger Schutzsuchende auf den griechischen Inseln an. Einige sinnvolle Projekte zu Bildung und Gesundheitsschutz für Geflüchtete in der Türkei wurden finanziert. Bald jedoch kam es zu Unstimmigkeiten zwischen der EU und der Türkei über das Prozedere.
Des weiteren beruht das Abkommen auf der falschen Prämisse, dass die Türkei ein sicheres Land für Asylsuchende sei. Viele Gerichtsurteile haben bestätigt, dass dem nicht so ist. Deshalb werden die Geflüchteten in der Regel nicht zurück geschickt. Somit kam auch die 1:1 Regelung nicht wirklich in Gang.
Im Januar 2022 wurden 19 Migranten in der Nähe der türkisch-griechischen Grenze tot aufgefunden. Türkische Behörden behaupten, griechische Polizisten hätten ihnen an der Grenze Kleidung und Schuhe abgenommen und sie dann in eisiger Kälte zurückgeschickt. Der griechische Migrationsminister wies diese Darstellung zurück. Insgesamt gibt es aber mittlerweile etliche gut dokumentierte Beispiele über von griechischen Grenzpolizisten begangene Pushbacks. (siehe G.Höhler im Kölner Stadtanzeiger vom 07.02.2022)
Was sagt die EU zu der Lage an der griechisch-türkischen Grenze?
Die EU-Spitze hat offen ihre Unterstützung für den menschenfeindlichen Ansatz der griechischen Regierung geäußert. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, beschrieb Griechenland als den “europäischen Schutzschild” und sicherte finanzielle und materielle Unterstützung sowie den Einsatz europäischer Grenzposten zu.
Hierbei handelt es sich um eine verdrehte Darstellung der Tatsachen. Europa muss nicht vor Menschen geschützt werden, die selbst Schutz suchen. Die Flüchtlinge und Migrant_innen an der Grenze benötigen Hilfe. Hilfe, auf die sie gemäß EU-Recht und Völkerrecht einen Anspruch haben.
Was sagt Amnesty International?
Amnesty hat im Juni 2021 einen Bericht veröffentlicht, der das Ausmaß an Gewalt dokumentiert, mit dem Griechenland den EU-Auftrag der Sicherung der Außengrenzen erfüllt. Die überwiegende Mehrheit der Menschen, mit denen Amnesty International gesprochen hat, berichtete, dass sie Gewalt von Personen, die sie als uniformierte griechische Beamt*innen beschreiben, sowie von Männern in Zivilkleidung erlebt oder gesehen hat. Dazu gehörten Schläge mit Stöcken oder Knüppeln, Tritte, Faustschläge, Ohrfeigen oder Stöße, die manchmal zu schweren Verletzungen führten.
Franziska Vilmar, Asylexpertin bei Amnesty International Deutschland sagt: „Es ist erschütternd, dass mehrere griechische Behörden eng zusammenarbeiten, um Schutzsuchende brutal festzunehmen und zu inhaftieren. Unsere Recherchen zeigen, dass gewaltsame Push-Backs de facto zur griechischen Grenzpolitik in der Evros-Region geworden sind“. (Pressemitteilung Amnesty, Juni 2021)
Amnesty fordert die europäischen Regierungen auf, das Völkerrecht zu respektieren und dafür zu sorgen, dass alle Asylsuchenden Zugang zu fairen und wirksamen Asylverfahren haben. Zudem müssen rechtswidrige Grenzkontrollpraktiken eingestellt werden, wie zum Beispiel Push-Backs, Sammelabschiebungen und rechtswidrige Rückführungen. Die europäischen Länder sollten umgehend ihren Beitrag dazu leisten, dass Asylsuchende aus Griechenland in andere Länder Europas weiterreisen können, z. B. indem sie Familienvisa und humanitäre Visa im Rahmen von Resettlement-Programmen ausstellen.