Im Fokus: Flüchtlingslager Moria

Was geschieht in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln?

Schon vor dem Brand waren Bilder des Flüchtlingslagers Moria auf Lesbos um die Welt gegangen. Die EU und die griechischen Behörden pferchten dort rund 13.000 – in Spitzenzeiten mehr als 20.000 – Menschen unter katastrophalen Bedingungen ein: Geflüchtete aus dem Nahen Osten, Afghanistan, Pakistan sowie aus Nord-, West- und Ostafrika. “Selbst für die Versorgung von Menschen in Kriegsgebieten gibt es feste Standards. Nicht einmal die sind hier erfüllt”, sagte der Leiter einer lokalen Kinderklinik von ‚Ärzte ohne Grenzen‘, Marco Sandrone, über die Zustände in Moria.

Seit Frühjahr 2020 hatten Hilfsorganisationen vor einem Covid-19-Ausbruch in dem völlig überfüllten Camp gewarnt und eine Evakuierung verlangt. Doch nichts geschah. Anfang September 2020 wurde die erste Covid-19-Infektion bei einem Somali in Moria festgestellt. Die Behörden ordneten an, das Gelände zu umzäunen, Gesunde und Kranke sollten gemeinsam eingesperrt werden. Dann gab es einen Aufstand, das Lager brannte ab. Die Polizei nahm später vier Afghanen fest, die die Brände gelegt haben sollen.

Acht Tage und Nächte mussten Tausende Flüchtlinge daraufhin ohne Obdach auf der Insel Lesbos verbringen. Viele schliefen auf den Straßen. Das Militär begann, ein Zeltlager in der Nähe des Lagers zu errichten. Doch viele der Menschen weigerten sich, dorthin zu gehen, weil sie fürchteten, auf Dauer dort interniert zu werden. Am Morgen des 17. September, neun Tage nach dem Brand, begannen Polizei und Militär die Menschen auf den Straßen zusammenzutreiben und in das neue Lager zu bringen.

Mittlerweile leben die Geflüchteten in dem neu errichteten Lager Kara Tepe. Genauso wie in anderen gefängnisähnlichen Lagern auf weiteren griechischen Inseln. Die Zustände haben sich nicht verändert. Viele bleiben dort über Jahre.

Eine Gruppe von afghanischen Flüchtlingen hat gemeinsam mit einer niederländischen Künstlerin eine Fotoplakat-Ausstellung konzipiert, die eindrücklich Fotos aus dem Lager Moria mit den offiziellen Verlautbarungen der Regierung kontrastiert. Auf der Website www.nowyouseememoria.eu finden sich die Bilder zum Anschauen, kostenfreien Herunterladen und Veröffentlichen.

Symptomatisches Lager

In Europa erschien Moria vielen als eine Art Betriebsunfall, eine Abweichung von einer an sich annehmbaren europäischen Norm. Diese Einschätzung sei völlig falsch, sagt die griechische Anwältin Elli Kriona, die viele Geflüchtete aus dem Lager vertritt. Moria sei vielmehr “symptomatisch” für das Versagen des EU-Asylsystems.

Tatsächlich ist das 2014 eröffnete Camp seit 2015 ein sogenannter Hotspot, ein von EU-Agenturen mitbetriebenes Registrierungslager, in dem unter anderem das EU-Asylunterstützungsbüro EASO, die Grenzschutzagentur Frontex und die Polizeibehörde Europol aktiv sind. Von diesen Hotspots gibt es allein in Griechenland fast ein halbes Dutzend. Moria ist zwar der bekannteste, die Situation der Geflüchteten in den übrigen Hotspots ist aber nicht wesentlich besser. Die EU hat die Zustände dort mit zu verantworten.

Ähnlich sieht es Franziska Vilmar, Amnesty-Expertin für Flucht und Asyl: “Griechenland und Europa haben das menschenrechtslose Moria gekannt, gewollt und gewissenlos verdrängt. Durch den Brand ist die Lage der geflüchteten Menschen wieder ins Bewusstsein gerückt. Amnesty erwartet neben der unverzüglichen Evakuierung dieser Menschen durch Deutschland und andere europäische Länder, dass die Praxis von Asylverfahren an den EU-Außengrenzen, die automatisch zu Menschenrechtsverletzungen führen, endlich beendet wird.”

Die deutsche Regierung hat bis April 2021 besonders schutzbedürftige Menschen in einem Sonderaufnahmeprogramm nach Deutschland geholt, insgesamt 2.750 Menschen. Ein erster Schritt, aber dennoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn man die Zahl von 90.000 unbearbeiteten Asylfällen in Griechenland dagegenstellt. „Für tausende weitere Geflüchtete hat sich an der Perspektiv- und Rechtlosigkeit auf den griechischen Inseln bisher nichts verändert. Eine Fortführung des Programms wäre ein Zeichen der Menschlichkeit und europäischer Solidarität“, sagt Franziska Vilmar. (Pressemitteilungen Amnesty International, März und Juni 2021)

1. Mai 2022